Neues Europäisches Einheitspatent und neues Einheitliches Patentgericht – welche Entscheidungen sind zu treffen, und welche Auswirkungen für die eigene Praxis sind zu erwarten?
1. Einleitung
Mit dem geplanten Start am 1. Juni 2023 beginnt ein neues Zeitalter im Europäischen Patentrecht: das neue Europäische Einheitspatent-System tritt in Kraft, bestehend aus dem Einheitspatent (Unitary Patent) und dem Einheitlichen Patentgericht (EPG, Unified Patent Court, UPC). 50 Jahre nach Einführung des Europäischen Patentübereinkommens und Millionen angemeldeter Europäischer Patente dürfte dies die gravierendste Neuerung der Europäischen Patentpraxis sein. Das Einheitspatent tritt als dritte Säule neben die nationalen Patente und die klassischen Europäischen Patente. Das Einheitliche Patentgericht wird als moderne und effiziente Streitregelung Einfluss nehmen auf sowohl das Einheitspatent als auch die klassischen Europäischen Patente.
Was wird neu, was bleibt? Indem die Patentlandschaft in Europa komplexer wird, stellen sich weitere relevante Fragen: welche strategische Entscheidungen sind zu treffen? Wie sollten sich Patentanmelder und -inhaber darauf einstellen, und welche Auswirkungen sind zu erwarten. Die vorliegende Übersicht soll zur Beantwortung solcher und weitere Fragen Leitlinien geben und –soweit geeignet – einen Vergleich zur etablierten, rein deutschen Streitregelung ziehen.
2. Eckpunkte des neuen Systems zu Einheitspatent und Einheitlichem Patentgericht
2.1 Schutzrechtsart
Mit der Einführung des neuen Rechtsrahmens hat der Patentanmelder auf europäischer Ebene (d.h. neben den nationalen Patenten) die Möglichkeit zu wählen zwischen
dem neuen europäischen Patent mit einheitlicher Wirkung ("Einheitspatent") in den Hoheitsgebieten aller teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten, die das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ) ratifiziert haben, und
wie bisher dem "klassischen" Europäischen Patent, das ein Bündelpatent darstellt und sich nach Patenterteilung in nationale Teile für die letztlich gewünschten, validierten Länder aufteilt. Soweit für einzelne Länder, die vom Einheitspatent gemäß a) nicht erfasst sind (z.B. die Nicht-EU-Länder Großbritannien oder die Schweiz), zusätzlich Schutz begehrt wird, so ist eine Mischung von a) und b) zu wählen.
Die nebenstehende Landkarte zeigt den jeweiligen Status der EU-Staaten, je nachdem ob für sie das EPGÜ wirksam ist (dunkelblau), ob sie das Übereinkommen unterzeichnet aber noch nicht ratifiziert haben (mittel blau), oder den Vertrag nicht unterzeichnet haben (hellblau).
(Quelle: Webseite des EPG)
2.2 Streitregelungen
Das neu eingeführte Einheitliche Patentgericht ist ein gemeinsames Gericht der teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten und Vertragsstaaten des EPGÜ. Ein wichtiger Unterschied zur oben beschriebenen Schutzrechtsart besteht darin, dass es zuständig ist nicht nur für die Einheitspatente sondern auch für klassische europäische Patente, die in einem oder mehreren Staaten validiert worden sind, sofern das validierte Land gleichzeitig EPGÜ-Vertragsstaat ist. Die für die Streitregelungspraxis bedeutendste Änderung besteht darin, dass eine Entscheidung des Einheitlichen Patentgerichts einheitlich in allen teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten Wirkung entfaltet.
Wählt der Patentanmelder bei Erteilung das Europäische Einheitspatent als Schutzrechtsart, so unterliegt es zwingend dem EPGÜ in den teilnehmenden EU-Ländern. Für klassische europäische Patente hat der Patentinhaber jedoch während einer 7-jährigen Übergangszeit die Möglichkeit, durch einen sogenannten "Opt-out"-Antrag die Anwendbarkeit des EPGÜ auszuschließen; dann bleibt es beim alten System nationaler Streitregelungen.
Weitere Details sowie zu strategischen Überlegungen zu den genannten Optionen werden in den nachfolgenden Abschnitten erläutert.
2.3 Prozessrecht im neuen Einheitlichen Patentgericht (EPG)
Die Verfahrensordnung des Einheitlichen Patentgerichts ähnelt den Grundstrukturen und Abläufen des deutschen Gerichtsverfahrens. Allerdings gibt es Besonderheiten beim EPG, die im deutschen Prozessrecht so nicht verankert sind und deshalb zu beachten sind:
Das deutsche zweigleisige Verfahren, bei dem verschiede Gerichte über die Verletzung (Patentstreitkammern der zuständigen Zivilgerichte) einerseits und über die Rechtsbeständigkeit (Bundespatentgericht) andererseits entscheiden, gibt es in dieser strikt getrennten Form nicht. Das EPG ist für beide Verfahren zuständig, allerdings kann eine abgemilderte Form der Zweigleisigkeit eintreten, nämlich wenn eine lokale Kammer im Rahmen der Verletzungsklage im Fall einer Widerklage gegen die Rechtsbeständigkeit nicht selbst entscheidet, sondern wahlweise diesen Aspekt an die zuständige zentrale Kammer verweist.
Die Klage auf Widerruf des Patents im EPG-Raum kann auch dann eingereicht werden, wenn ein Einspruchs/Beschwerdeverfahren vor dem EPA noch anhängig ist; im geltenden deutschen Recht ist das für klassische Europäische Patente nicht zulässig.
Zwischen schriftlichem Verfahren und der mündlichen Verhandlung ist optional ein sogenanntes Zwischenverfahren eingeschoben, in dem der Berichterstatter alle relevanten Punkte, Fragen und Beweismittel aufklären soll und Vorbereitungen für die abschießende mündliche Verhandlung trifft. Der Berichterstatter kann in diesem Zwischenverfahren auch eine Zwischenanhörung abhalten, in der Regel per Telefon- oder Videokonferenz. Dieses Zwischenverfahren wird tiefer gehen und substanzieller werden als eine bloße Güteverhandlung im deutschen Prozessrecht.
Die Zwischenanhörung und die mündliche Verhandlung (einschließlich der Zeugeneinvernahme) werden aufgezeichnet.
Eine Zeugenaussage als zulässiges Beweismittel erfordert eine schriftliche Erklärung und, auf Anordnung des Gerichts oder auf Antrag der die Zeugenaussage anbietenden Partei, eine mündliche Zeugeneinvernahme.
Die End-Entscheidung kann am Ende der abschließenden mündlichen Verhandlung verkündet werden; die schriftliche Entscheidungsbegründung soll vom Gericht innerhalb von 6 Wochen nach der mündlichen Verhandlung abgesetzt werden. Im deutschen Verletzungsprozess erfolgt die Verkündung der Entscheidung in der Regel erst Wochen nach der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungen und Anordnungen des Gerichts werden veröffentlicht; unter Umständen sind auf begründeten Antrag hin auch Schriftsätze und Beweismittel öffentlich zugänglich.
Klageänderung und Klageerweiterung in späteren Schriftsätzen, einschließlich Widerklage, sind dahingehend zu begründen, weshalb die Änderung oder Ergänzung nicht schon in einem früheren Schriftsatz enthalten war.
3. Inspektion zum Nachweis einer Patentverletzung
3.1 Grundzüge von Inspektion und Beweissicherung im EPGÜ
Die Möglichkeit der Inspektion zur Überprüfung von Tatsachen, insbesondere auch der Vorbereitung eines Patentstreits, ist wie im deutschen Prozessrecht auch im neuen EPG-Übereinkommen fest verankert. Der Patentinhaber kann eine Inspektion beantragen, wenn er eine Patentverletzung noch nicht schlüssig beweisen kann, weil ihm zum Beispiel Informationen über ein technisches Verfahren fehlen, die für die Patentverletzung relevant sind. Durch einen Inspektionsbeschluss erhält der Inhaber Zugang zu Räumlichkeiten oder einem darin befindlichen Gegenstand.
Dabei ist zwischen Inspektion und Beweissicherung zu unterscheiden: Gegenstand der Inspektionsanordnung ist die bloße Inspektion. Eine weitergehende Prüfung und Dokumentation, erst recht aber eine Beschlagnahme, ist nur auf der Grundlage einer Beweissicherungsanordnung möglich. Befindet sich das Objekt, auf das sich die Beweissicherungsanordnung bezieht, in nicht öffentlich zugänglichen Räumlichkeiten, reicht die bloße Anordnung der Beweissicherung hingegen nicht aus. In diesem Fall ist der Beweissicherungsantrag durch einen Inspektionsantrag zu ergänzen.
3.2 Inhalt, Gegenstand und Verfahren der Inspektion
Das Gericht ordnet die Inspektion nur auf Antrag an. Der Antragsteller muss die Notwendigkeit der Inspektionsmaßnahme begründen (hinreichende Belege, dass das Patent verletzt worden ist oder verletzt zu werden droht), und die Tatsachen und Beweismittel, auf die sich der Antrag stützt, müssen dem Gericht vorgelegt werden. Ein Ex-parte-Antrag muss besonders begründet werden: der Antragsteller muss darlegen, dass ihm durch eine Verzögerung voraussichtlich ein nicht wieder gutzumachender Schaden entsteht oder dass die Gefahr besteht, dass die Gegenpartei Beweismittel vernichtet.
Was kann eingesehen werden? Die Inspektion kann in "Räumlichkeiten", d.h. auf einem Grundstück und in den darauf befindlichen Gebäuden durchgeführt werden. Allerdings ist die Inspektion nicht auf "Räumlichkeiten" per se beschränkt, so dass auch Produkte, Geräte, Verfahren oder örtliche Gegebenheiten vor Ort Gegenstand der Inspektion sein können. Diese "Räumlichkeiten" müssen in den Antrag aufgenommen werden, um Gegenstand der Anordnung zu werden. Empfänger der mutmaßlichen Inspektionsanordnung ist der mutmaßliche (zukünftige) Patentverletzer. Es könnte eine Einsichtnahme aber auch gegenüber Dritten zulässig sein, wenn der Zugang zu Beweismitteln auch die Inspektion von Räumlichkeiten Dritter erfordert.
Die Gegenpartei ist unverzüglich, spätestens jedoch unmittelbar nach der Vollstreckung der Maßnahmen, von der Anordnung zu unterrichten. Die andere Partei hat die Möglichkeit, eine Überprüfung der Anordnung durch das Gericht zu beantragen (im Fall einer ex parte-Anordnung nachträglich). Im Rahmen dieser Überprüfung wird entschieden, ob die getroffenen Maßnahmen abzuändern, aufzuheben oder zu bestätigen sind.
Die Anordnung beruht auf einer Ermessensentscheidung. Das Gericht entscheidet unter Abwägung mehrerer Faktoren, zu denen insbesondere die Dringlichkeit der Maßnahme, die Gründe für eine Ex-parte-Anordnung und die Wahrscheinlichkeit, dass Beweismittel vernichtet werden oder anderweitig nicht mehr verfügbar sind, gehören. Keine Voraussetzung für den Erlass der Anordnung ist, dass der Antragsgegner die Einsichtnahme verweigert. Die Inspektionsanordnung kann daher als vorgreifliche Anordnung vor einem Verletzungsverfahren erlassen werden.
Die Anordnung ist im Prinzip sofort vollstreckbar. Die Vollstreckung des Beschlusses unterliegt dem Vollstreckungsverfahren und den Bedingungen des Mitgliedstaats, in dem die Vollstreckung beantragt wird. In der Regel sind neben der vom EPG erlassenen Anordnung keine weiteren nationalen Anordnungen erforderlich. Ist jedoch für die Vollstreckung nach nationalem Recht eine gerichtliche Anordnung erforderlich, weil die nationale Vollstreckungsstelle die Anordnung sonst nicht vollstrecken darf (z. B. bei einer Anordnung zur Nachtzeit), muss sie in die Anordnung des EPG aufgenommen werden.
Die gegnerische Partei wird dadurch geschützt, dass die Inspektion "neutral" ist. Das bedeutet, dass der Antragsteller von der Inspektion ausgeschlossen wird (er kann sich jedoch durch einen unabhängigen Berufsangehörigen vertreten lassen, etwa einen Patentanwalt), dass Geheimnisse geschützt werden müssen, und dass das Ergebnis der Inspektion in der Regel nur für das Hauptverfahren verwendbar ist.
Im Ergebnis sind die Bestimmungen und die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten und Besonderheiten des Inspektionsverfahrens im EPGÜ ähnlich zu denjenigen der deutschen Rechtspraxis; gleichzeitig ermöglichen sie strategische Optionen für entsprechende Inspektions- und Beweissicherungsverfahren auch in anderen Mitgliedsstaaten des EPG, die je nach nationalen Rechten national nicht zur Verfügung stünden.
4. Die einstweilige Verfügung (EV) im neuen EPG-System
Dank dem neuen EPG sind einstweilige Verfügungen (EV) mit grenzüberschreitenden Sachverhalten im gesamten Territorium der am EPG teilnehmenden Länder durchsetzbar. Dies ist gegenüber geltenden nationalen Systemen ein gravierender Vorteil, zumal EVs wegen mangelnder Gerichtspraxis in zahlreichen Ländern nicht effektiv erschienen.
Wesentliche Elemente des deutschen EV-Verfahrens sind auch in der Verfahrensordnung des EPG festgelegt, etwa ob über die Gültigkeit des Patents bereits im Rahmen eines EPA-Einspruchs oder eines nationalen Nichtigkeitsverfahrens entschieden wurde, ob Dringlichkeit besteht, oder ob eine Gegendarstellung des vermeintlichen Verletzers in Form einer Schutzschrift vorliegt.
Die Verfahrensordnung stellt es in das Ermessen des EPG, dem Antragsteller aufzuerlegen alle vernünftigerweise verfügbaren Beweise vorzulegen, um sich mit ausreichender Sicherheit nicht nur von die Verletzung sondern auch von der Gültigkeit des Verfügungspatents zu überzeugen. Mangels Präzisierung in der Verfahrensordnung ist die Frage offen, unter welchen Voraussetzungen und wie streng die Gültigkeit des Verfügungspatents einbezogen und beurteilt wird. Das wird letztlich erst die Praxis zeigen; die ersten Entscheidungen dürfen mit Spannung erwartet werden.
Folgt das EPG der Phoenix Contact/Harting-Entscheidung C-44/21 des EuGH vom April 2022, dann scheint der Standard eher niedriger zu sein als nach geltender Praxis in Deutschland. Denn in Deutschland war gängige Regel, wonach Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz wegen Patentverletzung grundsätzlich zurückzuweisen sind, wenn die Rechtsbeständigkeit des betreffenden Patents nicht zumindest durch eine erstinstanzliche Entscheidung im Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren bestätigt worden ist. Diese Regel ist insbesondere von den Düsseldorfer Gerichten sowie jüngst vom Oberlandesgericht München angewandt worden.
Gleichwohl gab es auch in der deutschen EV-Praxis eine Reihe von Ausnahmen von dieser Regel, insbesondere bei drohenden Markteinführungen von Generika, die zu einem irreparablen Schaden des Patentinhabers führen konnten. Insbesondere für diese Art von Pharma- und Biotech-Fällen hat die Entscheidung des EuGH also wenig praktische Relevanz.
Allerdings ist auch die Durchsetzungsrichtlinie 2004/48/EG zu beachten, wonach das EPG die Angemessenheit der beantragten einstweiligen Maßnahme zu prüfen hat. Legt man ferner die allgemein recht hohen Widerrufsquoten erteilter Patente zugrunde, so sollte vom EPG die Prüfung der (Un-)Gültigkeit des Patents regelmäßig eingeschlossen werden. Somit ist zu erwarten, dass die (Un-)Gültigkeit des Verfügungspatents auch im einstweiligen Verfügungsverfahren vor dem EPG eine wichtige Rolle spielen wird.
5. Vergleich Einspruchsverfahren beim EPA und Nichtigkeitsverfahren beim EPG
Das Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) ist ein attraktives Forum für die Anfechtung von Patenten; das Verfahren ist im Hinblick auf das Preis-Leistungs-Verhältnis weltweit so gut wie konkurrenzlos. Das Verfahren ist einfach, straff und kostengünstig. Es gibt Regeln, die zu befolgen sind, aber sie sind gut erprobt. Allerdings gibt es Einschränkungen – zum Beispiel eine Frist von neun Monaten nach dem Erteilungsdatum für die Einreichung, aber auch strenge Regeln für verspätet eingereichte Beweismittel.
Das EPG bietet nun eine zweite Chance, indem es ein weiteres Forum für den zentralen Widerruf eines Europäischen Patents im gesamten Territorium der EPG-Staaten bietet. Außerdem können Nichtigkeitsklagen beim EPG unabhängig von einem Einspruchsverfahren beim EPA geführt werden, so dass es tatsächlich ein (weiterer) effektiver Angriff auf das Europäisches Patent darstellt, selbst wenn parallel bereits ein Europäisches Einspruchs- und Beschwerdeverfahren anhängig ist oder war. Im deutschen Rechtssystem gibt es dagegen die Einschränkung – neben der Tatsache, dass es nur gegen den deutschen Teil des Europäischen Patents wirkt – dass ein Nichtigkeitsverfahren solange unzulässig ist, wie eine Europäisches Einspruchs- und Beschwerdeverfahren noch anhängig ist.
Wie beim EPA läuft das Verfahren EPG zunächst schriftlich ab, gefolgt von einer mündlichen Anhörung, die den jeweiligen Rechtszug beendet. Das Fristenregime vor dem EPG ist jedoch strenger: das EPG verlangt eine Klageerwiderung innerhalb von nur zwei Monaten, während EPA vier Monate Zeit lässt. Dies ist ein Nachteil für den Patentinhaber vor dem EPG, insbesondere wenn noch eine Übersetzung in eine Landessprache erforderlich ist. Sowohl beim EPA als auch vor dem EPG gibt es vor der abschließenden mündlichen Anhörung eine Zwischenverfügung, in welcher der Berichterstatter den streitigen Sachverhalt und die wichtigsten Punkte feststellt.
Die mündliche Verhandlung findet sowohl beim EPA als auch beim EPG in der Regel vor einem dreiköpfigen Gremium statt; sie kann einen ganzen Tag dauern.
Eine Nichtigkeitsklage beim EPG ist deutlich teurer als die Erhebung eines Einspruchs beim EPA: die Gerichtsgebühren belaufen sich auf 20 000 EURO, während sie beim EPA nur 840 EURO betragen. Andererseits sind die Kosten des EPG vergleichbar mit der Einlegung einer deutschen Nichtigkeitsklage.
Obwohl die Einspruchsabteilungen des EPA den Parteien die Kosten auferlegen könnten, kommt das in der Praxis sehr selten vor; jede Partei trägt ihre eigenen Kosten. Die Verfahrensordnung des EPG sieht vor, dass eine obsiegende Partei Anspruch auf die Erstattung angemessener und verhältnismäßiger Kosten hat. Zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, wie hoch die vom EPG zugesprochenen Kosten sein werden und inwieweit die Gerichtsgebühren im Vergleich zu den Anwaltskosten berücksichtigt werden. Vorläufig kann erwartet werden, dass Entscheidungen zur Erstattung der Kosten für die obsiegende Partei ähnlich der deutschen Praxis aussehen werden. Fraglich ist jedoch, ob Kosten für eine Doppelvertretung erstattungsfähig ist, d.h. für die Einschaltung sowohl eines Patentanwalts als auch eines Rechtsanwalts, da im neuen EPG-Recht der über eine ausreichende rechtliche Zusatzqualifikation verfügende Europäische Patentanwalt allein vertretungsberechtigt ist.
Die Verfahren vor dem EPG können kompliziert werden, wenn die Gültigkeit eines europäischen Patents durch eine Widerklage auf eine Verletzungsklage angegriffen wird. Beim Einspruchsverfahren vor dem EPA wird nur der Rechtsbestand selbst überprüft – das EPA betrachtet eine Verletzung überhaupt nicht. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass das Verfahren vor dem EPG zweigeteilt wird – d.h. ein in Deutschland praktiziertes System, bei über Verletzung und über Rechtsbestand separat durch zwei jeweils unterschiedliche Gerichte entschieden wird.
Zwar werden alle isolierten Nichtigkeitsklagen von einer Zentralkammer des EPG verhandelt, doch können Widerrufs-Gegenklagen als Reaktion auf eine Verletzung stattdessen bei der dann zuständigen lokalen Kammer des EPG erhoben werden; es steht allerdings im Ermessen der lokalen Kammer, die Widerrufs-Gegenklage an die Zentralkammer zu verweisen. Die Praxis wird zeigen, welches Prinzip – das ein- oder das zweigleisige Verfahren – vor dem EPG insgesamt Vorteile bringt und sich langfristig eventuell durchsetzt.
Wie aus dieser Darstellung ersichtlich gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen dem Einspruchsverfahren vor dem EPA und dem Nichtigkeitsverfahren vor dem EPG. Der für die Praxis vermutlich stärkste Unterschied besteht wohl in dem relativ strikten Zeitregime, welches für das Verfahren vor dem EPG vorgesehen ist. Dies erste recht, wenn Verletzungs- und Widerrufs-Gegenklage zeitgleich laufen und somit ein effektives und zügiges Handeln durch die Parteien und deren Vertreter erfordert.
6. "Dabei sein oder nicht, das ist hier die Frage" –
zu den Möglichkeiten und strategischen Überlegungen des Opt-out
6.1 Die Zuständigkeit des künftigen Einheitlichen Patentgerichts (EPG/UPC) kann auf Opt-out-Antrag des Schutzrechtsinhabers für unanwendbar erklärt werden für eine anhängige europäische Patentanmeldung ("EP-Anmeldung"), für ein erteiltes europäisches Patent ("EP") oder ein auf einem EP-Patent basierenden ergänzenden Schutzzertifikat ("SPC"). Streitfälle werden dann weiterhin von den nationalen Gerichten auf Länderbasis behandelt. Sobald ein Europäisches Patent ausoptiert wurde, ist es für seine gesamte Lebensdauer von der Zuständigkeit des EPG ausgeschlossen.
Bei Einheitspatenten ist ein Opt-out nicht möglich.
Opt-out-Anträge sind gebührenfrei. Sie können von Schutzrechtsinhaber oder von beim EPG zugelassenen Vertretern gestellt werden. Zur Kostendämpfung sind massenhafte Antragstellungen auf der Basis von Listen empfehlenswert. Speziell hierfür entwickelte Software reduziert anwaltsseitige administrative Maßnahmen. Zu beachten ist, dass der Opt-out-Antrag alle tatsächlichen Schutzrechtsinhaber richtig angibt; die im EPA-Register eingetragenen Inhaber sind möglicherweise nicht die aktuell Richtigen. Im Zweifel ist ein Datenabgleich mit amtlichen Registern zu empfehlen, um z.B. zwischen¬zeitliche Änderungen oder Rechtsübergänge zu erkennen. Denn eine ursprünglich nicht erkannte Unrichtigkeit könnte noch Jahre später im Rechtsstreit eingewendet werden, und ein ursprünglich unwirksames Opt-out kann in solchen Fällen zur eigentlich nicht gewünschten Anwendbarkeit des EPGÜ führen.
Eine zeitliche Einschränkung für den Opt-out-Antrag gibt es: geht eine Klage beim EPG ein, z.B. in Form einer Klage auf Nichtigerklärung (Widerruf) oder einer Klage auf Feststellung der Nichtverletzung, so ist ein nachträgliches Opt-out wirkungslos. Andererseits kann es – etwa wenn sich Umstände oder Strategie ändern, s. nachfolgende Überlegungen – sinnvoll sein durch eine Zurücknahme des Opt-out das EGP wieder zugänglich zu machen (Opt-back-in), es sei denn, es wurde ein Verfahren vor einem nationalen Gericht eines UPC-Vertragsstaates eingeleitet. Ein zweites Opt-out ist nicht möglich.
Ein Opt-out für eine Teilanmeldung ist unabhängig von demjenigen für die Stammanmeldung.
6.2 Vorteile und Nachteile des EPG – was spricht für ein Opt-out, was gegen?
Zahlreiche Faktoren werden im Allgemein und im Besonderen die Entscheidung beeinflussen, ob für bestimmte Patente der Nutzen des EPG überwiegt oder ob besser ausoptiert wird.
Vorteile und Nutzen des EPG überwiegen, wenn folgende Ziele angestrebt werden:
Eine einheitliche Entscheidung ermöglicht die Rechtsdurchsetzung in allen teilnehmenden (derzeit 17, künftig voraussichtlich mehr) EU-Ländern mit einer einzigen Verletzungsklage. Dieser Vorteil kommt vor allem dann zum Tragen, wenn Verletzungshandlungen in mehreren Ländern stattfinden. Dieser Vorteil ist eingeschränkt, wenn nicht teilnehmende Länder betroffen sind, etwa Nicht-EU-Länder wie Großbritannien oder die Schweiz, wo gegebenenfalls noch eigens durchzuführende Verletzungsverfahren angestrengt werden müssten. Allerdings könnten diese nachteiligen Effekte wieder neutralisiert werden, zum Beispiel wenn dennoch eine Reihe von EPG-Staaten betroffen sind oder wenn die übrigen nationalen Gerichte sich dem EPG-Urteil anschließen. Oder wenn das EPG-Urteil einen Parteivergleich begünstigen; aufgrund des zügigen Verfahrens beim EPG ist damit zu rechnen, dass das EPG-Urteil als Erstes vorliegt.
Neben der entsprechenden prozessualen und materiellen Vereinheitlichung und Vereinfachung wird die Durchsetzung von Patenten in weiten Teilen Europas mit deutlich geringeren Kosten erreicht. Die erstattungsfähigen Kosten der obsiegenden Partei liegen im Vergleich zu einem rein nationalen deutschen Verfahren höher.
Pro Instanz wird mit einer Verfahrensdauer von nur 12 Monaten von der Einleitung des Verfahrens bis zum Urteil gerechnet, d.h. selbst bei 2-instanzlichem Verfahren liegt das Endurteil nach etwa 2 Jahren vor.
Patentinhaber erhalten in der Regel, insbesondere wenn eine aktive und nicht passive/defensive Strategie gefahren wird, eine gute Wahlmöglichkeit des Gerichtsstandorts. Es darf erwartet werden, dass die vier deutschen lokalen Gerichte des EPG mit ihrer Kompetenz eine hohe Anziehungskraft vor allem für Patentinhaber haben werden.
Das EPPG urteil unter Einschaltung technischer Richter. Dies kann und wird voraussichtlich zur Klärung des Sachverhalts beitragen, insbesondere bei technisch komplexen Patenten. Es darf auch erwartet werden, dass der europäische Patentanwalt, der aufgrund zusätzlicher rechtlicher Qualifikation zur Vertretung beim EPG zugelassen ist, "auf Augenhöhe" mit dem Richtergremium kommunizieren kann – ein insbesondere bei mündlichen Verhandlungen wichtiger Vorteil.
Die Verwendung einer einheitlichen Sprache.
Die zu erwartende Harmonisierung der europaweiten Streitregelung. Und damit die Vermeidung einer schlecht vorhersehbaren, länderspezifischen Rechtsprechung an den nationalen Gerichten.
Effektive Verfahren zur Beweiserhebung wie Inspektionen sind möglich, die vor einem nationalen Gericht möglicherweise nicht zur Verfügung stehen.
Im Fall von mittelbarer Patentverletzung vermeidet das EPGÜ Schwächen mancher nationaler Rechtssysteme, die ein "doppeltes Territorialitätsprinzip" verlangen (ein mittelbarer Patentverletzer kann nur dann belangt werden, wenn sowohl dessen Lieferung eines wesentlichen Elements, als auch die letztlich realisierte Verletzung der beanspruchten Erfindung durch einen Anderen beides im Territorium desselben Staats erfolgen). Das EPG-System dagegen erleichtert eine effektive Rechtsdurchsetzung gegen sowohl den Lieferanten als auch den direkten Verletzter, denn es reicht dass Lieferung und direkte Verletzung jeweils irgendwo im gesamten EPG-Territorium erfolgen. Dies ist gerade in der heutzutage häufig vorgefundenen Situation paneuropäischer Lieferketten ein klarer strategischer Vorteil.
Der erfolgreiche Kläger erhält einen Teil seiner Prozesskosten zurück, wenn er den Prozess gewinnt.
Doch das EPG birgt auch Risiken und führt damit potentiell zu Nachteilen, so dass Patentanmelder und inhaber eher zum klassischen Patent und zum Opt-out neigen könnten:
Der Hauptnachteil besteht in dem Risiko, dass eine zentrale Anfechtung der Rechtsbeständigkeit möglich ist und somit zur Totalvernichtung im gesamten EPG-Gebiet mit einer Entscheidung führen kann. Das klassische EP-Patentsystem hingegen erlaubt weitere strategische Optionen selbst dann, wenn die Rechtsbeständigkeit nur in einzelnen Ländern verneint, in anderen dagegen bejaht werden könnte.
Ein älteres nationales Recht (d.h. ein Stand der Technik gemäß Art. 54(3) EPÜ), welches im Verhältnis zum streitigen Einheitspatent eine frühere Priorität besitzt, jedoch nach dem Prioritäts-/Anmeldetag des Streitpatents veröffentlicht wurde) wirkt gegenüber dem Einheitspatent neuheitsschädlich im gesamten EPG-Raum. Im Rahmen klassischer EP-Patente nur in dem Land, in dem das EP-Patent validiert wurde.
Ein zentraler Angriff auf die Rechtsbeständigkeit ist auch im Anschluss an oder sogar parallel zu einem Einspruchsverfahren beim EPA möglich. Eine zentrale Nichtigkeitsklage ist als unabhängige Klage oder als Nichtigkeitsgegenklage während eines Verletzungsverfahrens möglich.
Ein Mangel an Orientierungshilfen durch die Rechtsprechung in der Anfangspahse, da das EPG Zeit brauchen wird, um seine Rechtsprechung zu entwickeln und die vielen unklaren Details des neuen Systems zu klären. Anrufungen des Europäischen Gerichtshofs könnten häufiger vorkommen als bei nationalen Gerichten, insbesondere bei Fragen, ob die Anwendung des EPG-Rechts im Einklang mit dem Unionsrecht steht.
6.3 Die Entscheidung für oder gegen ein Opt-out spielen somit verschiedene Faktoren eine Rolle; es gilt die Vorteile und Nachteile des neuen und des bekannten Systems gegeneinander abzuwägen und daraus eine Entscheidung für den anstehenden Fall zu treffen. Steht der Nutzen eines effektiven, "europaweiten" und relativ kostengünstigen Rechtsstreits, die breitere Auswahl an Foren oder Rechtsdurchsetzung gegenüber mehreren, ggf. über Lieferketten verbundenen Beklagten im Vordergrund, könnten die Vorteile des neuen EPG-Systems den Ausschlag geben. Scheut man dagegen zentrale Angriffe auf die Rechts¬beständigkeit und somit das Risiko eines vollständigen Verlusts des Patents in einem Rechtszug, insbesondere bei wichtigen Patenten, wird man vorsichtshalber eher zur Vermeidung des EPG und daher zu einem Opt-out neigen. Es sollte auch bedacht werden, dass parallele Rechtsstreitigkeiten in mehreren Ländern zwar teurer sind, sich aber lohnen können, wenn sie die Chancen erhöhen, zumindest in einem oder einigen Ländern zu gewinnen.
Die Entwicklung der Rechtsprechung zu Fällen der Patentverletzung sowie der Rechts-beständigkeit durch das neue EPG wird helfen, in der Abwägung des Einzelfalls die richtige Entscheidung für das eine oder das andere System zu treffen. Wobei eine zeitlich gestaffelte und differenzierte Strategie eine gute Kombination ermöglicht: durch ein Opt-out zunächst im Zustand des geringen Risikos einer Gesamtvernichtung die Rechtsentwicklung abwarten und die Wettbewerbssituation beobachten; erweist sich der neue Rechtsrahmen des EPG als rechtssicher und bestätigen sich dessen Vorteile in Verfahrensfragen, oder sind Patentverletzungen akut erkennbar, so kommt durch ein einfacher Antrag auf Zurückahme des Opt-out (Opt Back-in) ein Wechsel in das EPG-System infrage. Das sollte jedoch gut überlegt sein, ist doch nach einem Opt-in-Wechsel ein erneutes Opt-out nicht mehr möglich.
Letztlich ist es eine Entscheidung des Einzelfalls, bei welcher das Für und Wider des neuen EPG-Systems abzuwägen sind.
Es ist ratsam, dass Patentinhaber ihr Portfolio klassischer EP-Patente prüfen, um je nach Umständen und unter Berücksichtigung der genannten allgemeinen und besonderen Faktoren eine Entscheidung über ein Opt-out zu treffen; wobei Entscheidungen nicht nur generell das Für oder das Gegen bedeuten können, sondern durchaus differenziert je nach Einzelfall unterschiedlich ausfallen können. Diese Prüfung ist nicht nur für die anfängliche Sunrise-Periode von Bedeutung, sondern sollte laufend auch bei noch anhängigen EP-Patentanmeldungen erfolgen, damit spätestens bei Erteilung eine konkrete Entscheidung über das für oder das wider gefällt wird.
In die Entscheidung, ob das Europäische Patent letztlich die Form eines Einheitspatent annimmt oder ob national validiert wird, sollten somit auch die Gesichtspunkte des gewünschten Gerichtssystems einfließen.
Die Anmelder sollten sich auch der verschiedenen Anmeldestrategien bewusst sein, um die Risiken des neuen Systems abzumildern. So kann es beispielsweise sinnvoll sein, eine Teilanmeldung als Ausweichlösung für wichtige europäische Patentfamilien anhängig zu halten. Das Stammpatent kann ins neue System gehen, während die Teilanmeldung national validiert werden kann (oder umgekehrt), um mehr Flexibilität bei der Prozessstrategie zu ermöglichen. Zu beachten ist auch, dass eine Reihe von europäischen Ländern Doppelschutz zulassen.
7. Fazit
Patentlandschaft und Streitregelung in Europa werden durch das neue Europäische Einheitspatent und das neue Einheitliche Patentgericht zwar komplexer, allerdings eröffnen diese Instrumente effektive zusätzliche Mittel und Wege einer zentralen, effektiven und relativ kostengünstigen Rechtsdurchsetzung. Zum Erreichen der strategischen Ziele werden jedoch mehr denn je eine gute Vorbereitung und eine Beachtung der Besonderheiten und des straffen Zeitregimes im neuen Prozessrecht erforderlich.